„Staat und Gesellschaft müssen geeignete Versorgungsmodelle für nicht krankenversicherte Menschen entwickeln. Viele leiden unter schweren psychischen und körperlichen Erkrankungen“, sagt Dr. Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen, in einer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf zum Hessischen Gesetz zur Schaffung von Clearingstellen und einem Behandlungsfonds zur Unterstützung von Menschen ohne Krankenversicherungsschutz. Eingebracht hat den Gesetzesentwurf die Fraktion „DIE LINKE“. Am 17. September 2020 findet die Anhörung im Hessischen Landtag statt. „Eine große Patientengruppe hat keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung – und somit auch nicht zu einer adäquaten psychotherapeutischen Versorgung“, so Winter.
Wiesbaden, den 17. September 2020 – Offizielle Zahlen der Bundesregierung gibt es zum Thema Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland nicht. Laut statistischem Bundesamt ist die Zahl von 80.000 im Jahr 2015 auf 143.000 im Jahr 2019 gestiegen. Das betrifft unter bestimmten Umständen EU-Bürger, Personen mit unklarem Aufenthaltsstatus, Geflüchtete, Wohnungslose und ehemals privat Krankenversicherte, die die Beiträge nicht mehr leisten können. „Schon allein dieser Anstieg um fast 80 Prozent in so kurzer Zeit zeigt die Notwendigkeit von eigens für diese Problematik eingerichteten Stellen“, betont Dr. Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen. Allein der Blick auf die Gruppe der Wohnungslosen verdeutlicht die Schwierigkeit im Umgang mit der Problematik: Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe steigt deren Zahl kontinuierlich an. Für 2018 auf wird sie auf über eine halbe Million geschätzt. „Die Diskrepanz zu den 143.000 zeigt uns, dass es eine hohe Dunkelziffer geben muss, beziehungsweise bei vielen der Status ungeklärt ist.“ Sicher ist, dass die Gruppe obdachloser Menschen nicht in der Statistik enthalten ist und daher hinzugerechnet werden muss. Auch hier gibt es aktuell nur Schätzungen: Zwischen 50.000 und 80.000 Menschen in der Bundesrepublik sollen kein Dach über dem Kopf haben – und verfügen ebenfalls nicht über eine Krankenversicherung. Zahlen speziell für Hessen gibt es noch nicht, laut Sozialministerium soll eine Wohnungslosenstatistik aber bis 2022 erhoben werden.
„Für das Abrutschen in die Wohnungslosigkeit sind in vielen Fällen psychische Erkrankungen mitursächlich“, berichtet Dr. Winter. „Sie verhindern adäquate Bewältigungsstrategien und verschärfen bestehende Probleme wie Arbeitslosigkeit, hohe Schulden oder Trennungen.“ Oft sind sie auch der Auslöser für die sozialen Probleme. Deshalb ist gerade die Behandlung der psychischen Erkrankungen eine wesentliche Voraussetzung, um die Menschen wieder in die Gesellschaft eingliedern zu können. „Bei der Gruppe der Wohnungslosen gehen wir davon aus, dass rund neunzig Prozent unter behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen leiden“, schätzt Dr. Heike Winter. Eine Behandlung, die sie ohne Krankenversicherungsschutz aber nicht bekommen.
„Die Einrichtung einer Clearingstelle erscheint als wirksames Mittel, um kompetent die zuständigen Kostenträger für somatische wie psychische Behandlungsdienstleistungen zu ermitteln und nicht krankenversicherte Patienten und Patientinnen wieder dauerhaft in Versicherungsverhältnisse zu führen“, sagt Winter. Sie verweist auf das im Nachbarbundesland Rheinland-Pfalz bereits mit Erfolg eingerichtete Modell mit der durch das Bundesland geförderten Clearingstelle in Mainz. Diese hilft Menschen ohne Krankenversicherung, wieder Zugang zum Gesundheitssystem zu bekommen. Vom Start im September des vergangenen Jahres bis August 2020 konnten dort bereits 285 Menschen beraten werden. Viele von ihnen sind erfolgreich an andere Beratungsstellen, in die medizinische Versorgung und an Behörden vermittelt worden.
„Nicht in der Statistik erfasst sind Menschen aus Hessen, die sich in Ermangelung eines entsprechenden Pendants bei uns an die Clearingstelle in Mainz gewandt haben. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Einrichtung einer Clearingstelle auch in Hessen notwendig ist“, berichtet Dr. Heike Winter. Um die medizinische und psychotherapeutische Versorgung der genannten Patientengruppe gewährleisten zu können, tritt die Psychotherapeutenkammer auch für die Einrichtung eines so genannten Behandlungsfonds ein. Dieser übernähme die Kosten für ambulante und stationäre Behandlungen – auch psychotherapeutische -, solange die Kostenträgerschaft nicht geklärt ist. Kritisch sieht die Psychotherapeutenkammer Hessen die Überlegung, dass es mehrere Clearingstellen auf das Bundesland verteilt geben soll. „Hier wäre einer zentralen, personell gut ausgestatteten Clearingstelle der Vorzug zu geben“, so Winter abschließend.