Psychotherapie im Wandel: Künftig mehr Mischformen aus Präsenz- und Videotherapie gewünscht

22.09.2020 | Kategorien: |

Alternativen zur starren 20-Prozent-Regel mittlerweile "absolut denkbar"

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Krankenkassen in Deutschland haben Mitte September die Frist für die so genannte Videotherapie bis zum 31. Dezember 2020 verlängert. Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten dürfen damit weiterhin unbegrenzt ihre Einzeltherapiesitzungen, psychotherapeutischen Sprechstunden und probatorischen Sitzungen online durchführen. Die Psychotherapie erlebt infolge der Corona-Pandemie also einen spürbaren Wandel. Grundsätzlich sind nämlich Behandlungen via Videotherapie auf maximal 20 Prozent aller Behandlungsfälle in einer Praxis begrenzt. Ursprünglich als Not- oder Übergangslösung gedacht, wächst die Akzeptanz. Der Ruf nach Anpassung an moderne Lebensumstände wird lauter: Die Psychotherapeutenkammer Hessen begrüßt die Entscheidung zur Fristverlängerung und wünscht sich für die Zeit nach der Pandemie keine Rückkehr zur alten 20-Prozent-Regel, sondern einen flexibleren Lösungsansatz.

 

Wiesbaden, den 23. September 2020 – „Die Präsenztherapie in unserem Beruf ist und bleibt der Goldstandard. Das zeigt durchaus auch der direkte Vergleich zu videobasierter Therapie“, sagt Dr. Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen. „Während der Pandemie war es aber alternativlos, verstärkt auf die Videotherapie zu setzen. Nur so konnten Therapien fortgesetzt und neue Patienten, die durch Corona hochbelastet sind, überhaupt aufgenommen werden.“ In keinem anderen Gesundheitsbereich gab es eine so starke Zunahme von Videosprechstunden wie in der Psychotherapie und die Erfahrungen der Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in Hessen sind „im Großen und Ganzen positiv“, wie Winter berichtet.

Es hat sich gezeigt, dass die Online-Sitzung Vorteile bieten kann, so zum Beispiel bei der Versorgung von Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder die eine lange und umständliche Anreise in eine Praxis haben. Nicht zuletzt gibt es Störungsbilder, bei denen der Zugang zum Patienten besser ohne Präsenz in der Praxis funktioniert. Die positiven Effekte der Digitalisierung sollten auch künftig erhalten bleiben. So könnten sich dauerhaft Mischformen aus Sitzungen mit Videoschaltung und solche mit direktem persönlichen Kontakt oder auch überwiegend videobasierte Psychotherapie etablieren. Aus diesem Grund ist in der Psychotherapeutenkammer Hessen die Rückkehr zur starren 20-Prozent-Regel kein wünschenswertes Szenario. „Mehr Flexibilität würde unserem Anspruch, jedem Patienten und jeder Patientin die individuell für ihn oder sie beste Therapieform anzubieten, in höherem Maße gerecht werden“, so Winter.

Um die Ausnahme zur Regel zu machen, müssten allerdings bestimmte Voraussetzungen definiert werden. Zum einen muss die Geeignetheit der Videotherapie gegeben sein. Das ist im Einzelfall zu prüfen. Zurzeit beispielsweise der Beginn einer Therapie ohne Präsenz in der Praxis möglich. Die Musterberufsordnung lässt das in coronafreien Zeiten nur nach diagnostischen Präsenzsitzungen zu, eine Regelung, die man bei der Psychotherapeutenkammer Hessen für sinnvoll erachtet. Weiterhin müssen sich das Störungsbild und die Lebens- oder Therapiephase, die Patient oder Patientin gerade durchlaufen, für die Online-Therapie eignen. Else Döring, Vizepräsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen, nennt Beispiele: „Für Angstpatienten, die die Wohnung nicht mehr verlassen wollen und deren Vermeidungsverhalten durch die Videotherapie aufrechterhalten wird, ist diese sicher nicht das Richtige.“ Therapeutinnen und Therapeuten berichten außerdem davon, dass die Videotherapie mit Kindern unter Umständen schwierig oder unmöglich sein kann. „Das ist etwa bei Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung oder eines konflikthaften Umfelds und Problemen mit den Eltern oder Geschwistern der Fall“, so Döring weiter. Familien, die über wenig Geld verfügen, fehlt die häufig die notwendige technische Ausstattung.

Für den störungsfreien Ablauf einer Sitzung müssen gerade die technischen Voraussetzungen gegeben sein, insbesondere eine schnelle und zuverlässige Internetverbindung stehen, was in Deutschland längst nicht überall der Fall ist. In der Gruppe älterer Menschen ist oft die Technikaffinität und oder –kompetenz nicht vorhanden, was für Verunsicherung sorgen kann. Dabei ist es unabdingbar, dass sich Patienten in ihrem Setting wohlfühlen. „Das führt uns zu einem weiteren wichtigen Punkt: Patient oder Patientin sollte für die Psychotherapie den nötigen geschützten Raum haben – was im wörtlichen Sinn und zeitlich zu verstehen ist“, sagt Döring. Die Gestaltung der Sitzung sollte der Präsenztherapie möglichst nahekommen. Insofern müssen Einflüsse von außen ausgeschlossen sein. Schließlich sind berufsrechtliche Grundlagen zu beachten. Dazu gehört die Sorgfaltspflicht eines Therapeuten - aber auch die Bedarfsplanung samt Residenzpflicht. Diese dürfen im Rahmen der Etablierung digitaler Lösungen nicht unterwandert werden.

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