Den „Welttag der seelischen Gesundheit“ am 10. Oktober 2020 nimmt die Psychotherapeutenkammer Hessen zum Anlass, eine höhere Akzeptanz in der Gesellschaft für psychische Erkrankungen einzufordern. Enttabuisierung und Entstigmatisierung seien wesentliche Voraussetzungen dafür, dass Betroffene offener mit ihren Problemen umgehen können und deutlich mehr Menschen Behandlungsangebote annehmen.
Wiesbaden, den 5. Oktober 2020 – „Mental Health for all“ – seelische Gesundheit für alle – ist das Motto des diesjährigen „World Mental Health Day“. Rund um den Erdball finden Aktionen statt, um mehr Engagement und Investitionen im Gesundheitswesen sowie einen leichteren Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungsangeboten für psychisch kranke Menschen einzufordern. Symbol der Bewegung ist die grüne Schleife.
„In Deutschland gehen wir davon aus, dass nur 20 bis 25 Prozent der Menschen mit einer psychischen Erkrankung tatsächlich in Behandlung sind“, sagt Dr. Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen. Dabei zählen diese neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Störungen des Bewegungsapparates zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. „Es ist ein großes Problem, dass seelische Erkrankungen immer noch ein enormes Tabuthema sind. Dafür, dass wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, ist das eigentlich unglaublich. Stattdessen werden permanente Leistungsfähigkeit und –bereitschaft bei uns großgeschrieben. Man muss funktionieren. Vor diesem Hintergrund verwundert die Zahl dann schon wieder nicht.“
Zufall oder nicht – am 10. Oktober ist gleichzeitig auch „Tag der Obdachlosen“. Ihre Zahl wird in Deutschland unterschiedlichen Quellen zufolge auf 50.000 bis 80.000 geschätzt. Bei der Psychotherapeutenkammer Hessen geht man davon aus, dass rund 90 Prozent von ihnen unter behandlungsbedürftigen psychischen und Erkrankungen leiden. Sie haben keine Krankenversicherung und keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung – und damit auch nicht zu einer psychotherapeutischen Behandlung. „Für sie könnte es kein treffenderes Motto geben als ‚seelische Gesundheit für alle‘“, so Dr. Winter.
Die Gefahr, dass immer mehr Menschen in Deutschland sozial abrutschen, wächst: Die Zahl der Wohnungslosen steigt laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe kontinuierlich an. Zuletzt wurde sie 2018 auf über eine halbe Million geschätzt. Zwar ist „wohnungslos“ nicht gleichzusetzen mit „obdachlos“. „Wohnungslos“ ist die Gruppe von Menschen, die kein Eigentum und keinen Mietvertrag besitzt. Dazu zählen Obdachlose, zum Beispiel aber auch solche Menschen, die regelmäßig in Einrichtungen oder bei Verwandten und Freunden unterkommen. Auch unter ihnen ist die Zahl derer mit mehr oder minder schweren psychischen Belastungen hoch – und viele verfügen ebenfalls nicht über eine Krankenversicherung. Angesichts der Folgen der Corona-Pandemie – Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, wachsende Angst um die Zukunft – könnte sich die Situation verschärfen. „Für diese Menschen wäre eine Psychotherapie sehr wichtig, um der Abwärtsspirale ein Stoppschild entgegenzusetzen“, berichtet Winter.
Sie begrüßt , dass es so etwas wie den „Welttag der seelischen Gesundheit“ und den „Tag der Obdachlosen“ gibt – und dass mit dem Tragen der grünen Schleife Solidarität gezeigt wird. Das reiche aber eben nicht aus: „Wir müssen es schaffen, dass psychische Erkrankungen akzeptiert sind und genauso offen angesprochen werden können wie ein Armbruch – ohne Angst vor dem Verlust des sozialen Status oder Arbeitsplatzes. Und wir müssen es schaffen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen genauso selbstverständlich Zugang zu einer adäquaten Psychotherapie finden wie zur Behandlung des Armbruchs.“